Piyusha Chatterjee ist mündliche Historikerin und interdisziplinäre Forscherin. Sie befasst sich mit der globalen wirtschaftlichen Umstrukturierung und der Deindustrialisierung im Globalen Süden seit den 1960er Jahren und mit der geschlechtlichen Dimension dieser Veränderungen. Ihre Forschungsinteressen liegen an der Schnittstelle von Arbeits-, Stadt- und Medienforschung. Im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit der Deindustrialisierung möchte sie Räume für den Dialog zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden schaffen, um deren einzigartige Herausforderungen und die Lücken in der „globalen“ Wirtschaft besser zu verstehen. Nach Abschluss ihres PhDs im sogenannte Interdisciplinary Individualized Program der Universität Concordia in Montreal, im Jahr 2022 arbeitete sie als Coordinator and

Community Facilitator am Centre for Oral History and Digital Storytelling. Dort förderte sie den Dialog zwischen Universität und Gesellschaft und unterstützte eine Gruppe von mündlichen Historiker:innen bei ihren Forschungs- und Kooperationsinitiativen. Dr. Chatterjee hat einen Masterabschluss in Englisch von der Universität für Englisch und Fremdsprachen in Indien und zehn Jahre Berufserfahrung in den Bereichen Printjournalismus und Oral-History Forschung in Indien. Sie wird im August 2023 ihre neue Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Modern Languages & Cultures der Universität Glasgow antreten. Die Stelle wird vom Social Sciences and Humanities Research Council (SSHRC) im Rahmen des Projekts Deindustrialisierung und die Politik der Gegenwart finanziert.


Forschungserklärung: “An Unfair Division of Labour: Gendering the Commodity Chain of Textile and Garment Production” 

Mein Forschungsprojekt, „An Unfair Division of Labour: Gendering the Commodity Chain of Textile and Garment Production“ untersucht die ungleiche und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der globalen politischen Ökonomie in der Zeit nach den 1960er Jahren. Meine Auseinandersetzung mit der Deindustrialisierung charakterisiert sich durch eine transnationale und auf den Globalen Süden gerichtete Perspektive. Ich erforsche die Geschichte der Chikankari-Arbeiterinnen in und um Lucknow in Nordindien. Sie sind für diese traditionelle Form der Stickerei bekannt, die in der Mode- und Bekleidungsindustrie hoch geschätzt wird. Ich versuche zu verstehen, wie Ungleichheiten an der Schnittstelle von Klasse, Kaste, religiöser Identität, race und Geschlecht in dieser Kunsthandwerksindustrie nach der wirtschaftlichen Umstrukturierung reproduziert worden sind. Ein zweiter Teil dieses Projekts wird sich darauf konzentrieren, eine Topographie der Arbeitsvorschriften und der Arbeiter:innensolidarität zu erstellen und gleichzeitig die Entwicklung und Rolle von Exporträten, Handelsmessen, gemeinnützigen Organisationen und internationalen Organisationen in der globalen Warenkette zu untersuchen. Wie dieses Projekt zeigt, müssen die Ursachen der Ungleichheiten auf lokaler Ebene untersucht werden, ohne die transnationale Dimension der Prozesse und Auswirkungen der Deindustrialisierung aus den Augen zu verlieren. Das Forschungsprojekt wird einen wichtigen Beitrag für die Deindustrialisierungsforschung leisten, denn eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Globalen Süden ist unabdingbar. Insbesondere mit Arbeiterinnen in Volkswirtschaften, die eine rasante Industrialisierung durchlaufen. Denn dadurch können die vielfältigen Erfahrungen verstanden werden, die im Zuge der wirtschaftlichen Umstrukturierung entstanden sind. Theoretisch ist das Projekt in der feministischen Forschung über Arbeit und politische Ökonomie in Indien sowie über Deindustrialisierung und Urbanismus im Globalen Süden verankert. Auf der Grundlage heterodoxen ökonomischen Denkens und eines feministischen geographischen Ansatzes zum Verständnis von Märkten als eingebettet in einen bestimmten Ort, zielt meine Forschung darauf ab, die Marginalisierung von Frauen in der Wirtschaft anhand der folgenden drei Fragen herauszuarbeiten: Wie beeinflussen race, Geschlecht und die Geschichte der Kolonisierung die Erfahrungen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt im Globalen Süden? Warum sind vor allem Frauen von den negativen Konsequenzen dieser Entwicklungen betroffen? Und schließlich: Wie gehen wir mit den Ungleichheiten um, die im transnationalen Handel entstehen? Durch Oral-History Interviews mit Chikankari-Arbeiterinnen und eine gleichzeitige Untersuchung anderer Akteur:innen in den globalen Warenketten, wie Zwischenhändler:innen, Zulieferer:innen, Besitzer:innen von Exportfirmen, Designer:innen und Einzelhändler:innen, werden die komplizierten und vielschichtigen Auswirkungen der Deindustrialisierungsprozesse auf die Bekleidungsarbeiterinnen in Indien seit den 1970er Jahren herausgearbeitet. Eine gemeinsam entwickelte webbasierte Plattform „Bolte Dhaage (speaking threads)“ wird den Forschungsprozess dokumentieren und Erlebnisse aus dem Alltag in den globalen Warenketten an die Öffentlichkeit bringen.