Michael Bianchi ist wissenschaftlicher Assistent auf Stufe Doktorat an der Fakultät für Architektur der Universität Lüttich. Nachdem er 25 Jahre lang in der Architektur- und Stadtplanung tätig war, unterrichtet er nun architecture and territory project im Masterstudiengang ‚Territory, Space, Places‘ (Terri_L) und promoviert im Labor ’ndrscrLab/Architecture and Politics‘ unter der Leitung von Eric Le Coguiec. Seine Forschungen befassen sich mit den vergangenen, aktuellen und zukünftigen (potenziellen) Entwicklungen der Industriestadt Charleroi. Er untersucht, wie die Stadtpolitik – die sich im Spannungsfeld zwischen neoliberalen Doktrinen, wachsender Ungleichheit und ökologischen Anforderungen bewegt – versucht, dem wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang entgegenzutreten.

2019 trat er dem Verein Urbagora bei, einem Verein mit Sitz in Lüttich, der Debatten über Stadtentwicklung lanciert, Bürgerbildungsprojekte durchführt, Information über Stadtentwicklung anbietet und Projekte und Gegenprojekte mit sozialer und ökologischer Zielsetzung entwickelt. Er ist zudem Mitglied des Redaktion der Zeitschrift „Dérivations“, die seit 2015 von Urbagora herausgegeben wird und sich mit Stadtentwicklungsfragen befasst und wissenschaftliche Beiträge, literarische Texte und grafische Darstellungen miteinander kombiniert. Derzeit koordiniert er zusammen mit Gregorio Carboni Maestri die 8. Ausgabe der Zeitschrift, in der die Bedingungen der Raumkritik besprochen werden (Veröffentlichung für Herbst 2022 geplant).


Email: mbianchi@uliege.be

Website: https://www.uliege.be/cms/c_9054334/fr/repertoire?uid=U220958

Forschungserklärung

On the possibilities of life among the ruins of industry, political stakes of the valorization of abandoned lands in the country of Charleroi.

Genau wie andere Industriestädte die sich im Niedergang befinden, hat Charleroi seit den 1960er Jahren auf der Suche nach einer nachhaltigen wirtschaftlichen, sozialen und symbolischen Umstrukturierung eine kontinuierliche Neudefinition seines städtischen und territorialen Projekts durchgemacht. Derzeit sind die Stadt und ihr Gebiet Gegenstand eines strategischen Entwicklungsplans (2015-2025), der sich an den Erfahrungen orientiert, die andere Industriestädte in den 1990er Jahren wie Bilbao, Sheffield oder Pittsburgh mit der Umstrukturierung gemacht haben. Dabei kam es zu einer Wiederaufwertung des städtischen Raums auf verschiedenen Ebenen: Von der städtebaulichen Umstrukturierung verschiedener Orte bis hin zur symbolischen Produktion – verkörpert in der Architektur – oder der kulturellen Produktion, die durch öffentliche Räume (Festivals, öffentliche Kunst) vermittelt wird.

Neben diesen Phänomenen der Raumproduktion (Lefebvre, 1974), die von institutionellen Akteur:innen ausgehen, entwickeln die Bewohner:innen oder Nutzer:innen der Stadt andere Praxen, d. h. eine andere Raumproduktion, die sich durch Alltagspraktiken kennzeichnet und sich sowohl Orte als auch die Geschichte aus den von der Industrie hinterlassenen Ruinen aneignet. Kulturelle und biologische, menschliche und nicht-menschliche Lebensformen regenerieren sich allmählich, indem sie sich die zahlreichen Zwischenräume zunutze machen, die aus den verlassenen Orten und Räumlichkeiten entstanden sind. Diese „arts de faire“ (De Certeau, 1990) sind in das Territorium und den städtischen Raum eingeschrieben und verändern sie in aller Stille. Sie hinterlassen ihre Handschrift und prägen die Vorstellungswelt des urbanen Raums. Diese Taktiken entziehen sich größtenteils den städtischen Projekten und Planungslogiken.

Wir konzentrieren uns auf die schwindende Industriestadt, weil sie deutlich macht, wie notwendig es ist, die städtischen und territorialen Vorstellungswelten im Hinblick auf die sozialen und ökologischen Krisen neu zu definieren. Anstatt die Industriestadt als Hauptbühne globaler Aktualitäten zu verstehen, könnte man sie eher als Bestandteil der Hintergrundkulisse begreifen, in der die Folgen neoliberaler Politik wie auch der Widerstand dagegen offen sichtbar gemacht werden.