Florence Darveau Routhier ist Mitglied des Collectif d’histoire, d’éducation et d’Archivage populaire (CHEAP) aus Sherbrooke, Kanada. Sie forscht im Bezirk Alexandre in Downtown Shebrooke, einem Arbeiter:innenviertel, das sich Stadterneuerungsprozessen ausgesetzt sieht, die Teil einer fortlaufenden Gentrifizierung sind. Ihre ortsbezogene Forschung zielt darauf ab, diejenigen Narrative zu dekonstruieren, die Probleme wie Armut und andere damit zusammenhängende Themen „von oben“ betrachten (Scott, 2019). Sie nähert sich daher armutsbezogenen Fragen und historischen Kämpfen durch die Perspektive derjenigen Menschen, die sie erfahren. Dafür verwendet Darveau kreative ethnographische Methoden und sie orientiert sich an Erkenntnistheorien, die den sozialen Standpunkt der jeweiligen Personen miteinbeziehen (Hill Collins, 1997; Haraway, 1988). Ihre kollaborative Vorgehensweise zielt darauf ab, alternative Erkenntnisformen aufzuzeigen, Beobachtungen als privilegierte Art der Erkenntnis zu dezentralisieren und Praktiken der gegenseitigen Hilfe, Bildung und des populären Kampfes zu entwickeln. Zu diesem Zweck nutzt sie das Archiv als Forschungs- und Kooperationsmethode. Ihr vom FRQSC (Fonds de recherche du Québec) gefördertes Postdoc-Projekt basiert auf einem kollaborativen Ansatz. Die Idee ist, ein populäres Archivs in der Innenstadt von Sherbrooke zu entwickeln, das darauf abzielt, die Auswirkungen von Deindustrialisierung und Gentrifizierung auf die Lebensbedingungen in Sherbrooke zu dokumentieren. Ihre vom SSHRC (Social Sciences and Humanities Research Council of Canada) finanzierte Doktorarbeit ist eine kritische öffentliche Ethnographie, die Enteignungsprozesse im Bezirk Alexandre beschreibt. Darveau unterrichtet an der Universität von Sherbrooke an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften.

Forschungserklärung: Archiving the lived city: the present history of a Sherbrooke in struggle

Mein Postdoc-Projekt zielt darauf ab, ein populäres Archiv im Herzen des Alexandre-Viertels zu entwickeln. Dafür arbeite ich mit dem CHEAP-Kollektiv und anderen lokalen Organisationen und Einzelpersonen zusammen, die an Archivierung interessiert sind und sich an verschiedenen Kämpfen beteiligen. Sei es für den Zugang zu Wohnraum, Kämpfe für eine bessere Gesundheitsversorgung oder für die Gewährleistung eines rechtlichen Status, der allen Menschen gleiche Rechte und Möglichkeiten bietet. Mit diesem Ansatz versuche ich, die sozial-räumlichen Kämpfe in der Innenstadt von Sherbrooke und die spezifischen Umstände, innerhalb dessen sie sich entwickeln, zu beschreiben und zu verstehen. Dabei möchte ich auch die miteinander verflochtenen Deindustrialisierungs- und Gentrifizierungsprozessse miteinbeziehen, die die spezifischen sozialen Umstände Sherbrookes prägen.

Sherbrookes ist eine Universitätsstadt, sie entstand rund um den Fluss Magog. Dessen Wasserkraftnutzung war zentral für die Stadt, genauso wie die Textil- und Metallurgieindustrie die sich in der Stadt entwickelte. Zudem ist das Zusammenleben in Sherbrookes seit über einem Jahrhundert durch englisch- und französischsprachige Institutionen geprägt. Mein ortsbezogenes Projekt hat also zwei verschiedene Dimensionen: eine soziale und eine wissenschaftliche. Die Herstellung und Archivierung von lokalen, heterogenen und mehrstimmigen Erkenntnisformen soll durch einen kollaborativen ethnographischen Ansatz (Rochat, 2021) gefördert werden, der zugleich auch kreative Mittel verwendet. Dabei soll ein blinder Fleck in der Forschung adressiert werden, denn die Verflechtung zwischen Deindustrialisierung (High, 2022) und Gentrifizierung (Lees and Phillips, 2019) wird in der bestehenden Literatur nicht ausreichend behandelt.


Email: florence.darveau.routhier@umontreal.ca